REISEN – WOHIN NUR?
Auch in diesem Jahr zieht es wieder Massen deutscher Urlauber in die weite Welt. Die Angebote der Reiseveranstalter sind so günstig wie noch nie. Doch die Wünsche der Touristen werden immer ausgefallener. Individualismus ist gefragt. Spezialreisen sind „in".
TOURISTEN sind mit Christoph Kolumbus zu vergleichen, spotteten einst Reiseleiter: Wenn sie losfahren, wissen sie nicht, wohin es geht, und wenn sie da gewesen sind, wissen sie nicht, wo sie waren. Das ist heute anders. Jeder der 45 Millionen deutschen Urlauber, der in diesem Jahr in der Welt unterwegs war, versteht sich als gut informierter Individualist. Er lässt sich nicht mehr betäubt wie in einem Schneewittchensarg durch die Gegend tragen.
Der Tourist von heute plant auch seinen Zweit- und Dritturlaub genau nach seinen Erlebniswünschen – und preisbewusst. Nur so ist zu erklären, warum 1999 die Zahl der Flugpauschalreisen aller deutschen Anbieter zweistellig gewachsen ist. Die deutschen Ferienflieger erhöhten ihre Passagierzahlen um 12,5 Prozent. Diese Steigerung im neuen Jahr noch einmal zu überbieten erwartet keiner der Veranstalter. Schon 1999 sank der durchschnittliche Umsatz pro Teilnehmer leicht. Dahinter verbirgt sich ein stärker werdender Preiskampf der Reiseverkäufer, wobei die größten sieben Veranstalter ihren Anteil am Markt der 52 Anbieter nochmals ausgebaut haben.
Die Urlauber sind aber nicht nur preisbewusst. Sie suchen nach individuellen Nischen für ihre Bedürfnisse. Die Großveranstalter haben sich schnell darauf eingestellt: Sie erkannten, dass ein Flug von A nach B und dazu etwas Strand und Meer nicht mehr ausreichen. Jetzt produziert die gesamte Branche Erlebnisse und kontrolliertes Abenteuer. Gleichzeitig verabschiedet sie sich vom Massenprodukt und bietet unzählige Spezialreisen an.
Die einen wollen Rad fahren und abends im Fünf-Sterne-Hotel übernachten. Andere möchten Gleitschirm fliegen in Südafrika. Beliebt ist auch die ungewöhnliche Kombination, erst die Teeplantagen auf Sri Lanka zu besuchen und dann eine Woche im arabischen Wüstensand auf Safari zu gehen. Dann gibt es den günstigen Familienurlaub mit Kinderbetreuung. Möglich wird das bei den Großanbietern durch eine Art Plattformstrategie wie beim Autobau: Die gleichen Bauteile finden sich zum Beispiel im Passat, im Audi und im Skoda wieder. Das maximiert die Varianten und minimiert den Preis.
Heute ist Reisen billig wie nie. Nicht nur die Flug-, sondern auch die Hotelpreise stürzen. Die deutschen Branchenriesen erklären durch ihre Preissenkungen ganze Länder zu Billigurlaubsgebieten. Daran lässt sich ablesen, wohin es viele Deutsche im Jahr 2000 ziehen wird. Kuba und die Dominikanische Republik werden günstiger. Portugal und Mallorca lassen sich bei fallenden Preisen noch besser verkaufen. Ägypten und die Türkei – von Touristen wegen mangelnder Sicherheit und Erdbeben bisher gemieden – steuern wieder auf einen Boom zu.
Dabei spielt das Internet eine wachsende Rolle, was die Reiseverkäufer hier zu Lande noch unterschätzen. In den USA ist schon heute der Verkauf von Reisen der umsatzstärkste Markt in diesem Medium. Das liegt daran, dass sich der Netzsurfer bei aufkommendem Fernweh zu Hause an seinen Bildschirm setzt und sich nicht nur die verrücktesten Urlaubsorte vor Augen führt. Er kann sich sogar in örtliche Zeitungen und in Reiseberichte von Gästen vor Ort vertiefen. So „fühlt“ er sich in sein Feriengebiet ein und kann es augenblicklich buchen.
Gleichzeitig bedient das virtuelle Medium den Entdeckerdrang. Ein bisschen Christoph Kolumbus steckt in jedem. Der Aktivurlauber findet ungeahnte Ziele, vom Mountainbike-Fahren im Salzbergwerk bis zum Probebaggern in der Kiesgrube. Urlaub dient – wie nie zuvor – der Selbstverwirklichung, der Abgrenzung von den „anderen“, die nur „normale“ Ferien machen. Damit verliert er vielfach den klassischen Sinn der Entspannung.
Die Manager der alteingeführten Ferienregionen sind gezwungen, sich darauf einzustellen. Warum sonst würden typische „Badeinseln“ wie Saint Lucia, Grenada und Tobago in der Karibik plötzlich mit Regenwaldtouren und Kanufahrten auf sich aufmerksam machen? Zum Baden allein kommen ständig weniger Gäste.
Immer noch gibt es Urlauber, die sich von den individuellen Massenangeboten nicht verführen lassen wollen. Sie entdecken Exotik gleich in der Nähe – vielleicht den Sandstrand von Usedom oder die seenreiche Uckermark. Die abenteuerliche Hügellandschaft liegt hinter Prenzlau, etwa 100 Kilometer von Berlin entfernt, und ist in Westdeutschland ziemlich unbekannt.
Дата добавления: 2015-06-17; просмотров: 802;