IST DIE VERGANGENHEIT VORBILD

 

Diese Stadt ist einfach abstoßend. Ganze Häuserzeilen, die nach der Abrissbirne rufen. Wilde Müllkippen inmitten der City. Achtlos abgestellte Autowracks an Straßenrändern. Gesichtslose Traban­tenstädte, Arbeiterschließfächer für die Nacht. Und über allem, besonders jetzt im November, der Schwefelgestank aus den Schloten der Braunkohleöfen.

Diese Stadt ist einfach faszinierend. Prächtige Bürgerhäuser, die ihre Würde inmitten des Verfalls bewahrt haben. Weitläufige Parkanlagen, die in der Herbstsonne erstrahlen. Historische Passa­gen, die zum Flanieren einladen. Und an fast jeder Ecke wird, kurz vor Wintereinbruch, hektisch an der Zukunft gebaut.

Leipzig im Umbruch – ein Vorgang, der so vielfältig und kon­trastreich wie die Geschichte der Stadt ist.

Bereits 1893 steigt die damals zügig expandierende Sachsen-Metropole zur viertgrößten Stadt Deutschlands auf, nur Berlin, München und Hamburg haben mehr Einwohner. Ebenfalls ganz vorn rangiert Leipzig hinsichtlich seines Wohlstandsniveaus. Ein Grund dafür: der hohe Anteil von Juden. Mit 13 000 Mitgliedern bilden sie 1925 die sechstgrößte Gemeinde im Reich und beeinflussen nachhaltig Kultur und Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft.

So verdankt der Rauchwarenhandel vor allem dem jüdischen Engagement seine Blüte. Juden sind es, die den Brühl in eine „Weltstraße der Pelze“ verwandeln. Rund um die prominente Meile im Zentrum werden 1928 über 700 Veredlungs- und Handelsfirmen gezählt, die gut ein Drittel der gesamten Welternte an Fellen umschlagen. Die Branche beschäftigt in ihren besten Zeiten mehr als 10 000 Menschen und sorgt sogar für ein höheres Steueraufkommen als die Industrie.

Gleichwohl erlebt das verarbeitende Gewerbe einen stürmischen Aufschwung. Von 1907 an gilt Leipzig noch vor der Rivalin Dresden und den beiden Arbeiterhochburgen Halle und Chemnitz als bedeutendster Industriestandort Mitteldeutschlands. An der Wende von den zwanziger zu den dreißiger Jahren ist bereits jeder zweite Erwerbstätige in der Industrie beschäftigt. Eine herausragende Bedeutung kommt dabei den polygraphischen Unternehmen zu.

Diese Betriebe gedeihen aufgrund einer einzigartigen Konzentration von Verlagen. Traditionsreiche Namen wie Reclam, Insel und Brockhaus untermauern Leipzigs Ruf als führende Buchstadt Europas. Die 1912 unter Beteiligung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler gegründete Deutsche Bücherei sichert diese Position ebenso ab wie zahlreiche Messeinnovationen: Hier feiert etwa die Buchkunst-Ausstellung (IBA) und die internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik (Bugra) Premiere.

Überhaupt bildet die Messe das Rückgrat des florierenden
Wirtschaftsgeschehens. Heute völlig unvorstellbar: Zu Beginn des Jahrhunderts werden in Leipzig etwa drei Viertel aller europäischen Messeumsätze abgewickelt. 1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, registriert das städtische Messeamt 4200 Aussteller und 36 000 „Einkäufer“, darunter 4000 ausländische. 1923-1925 reisen zum ältesten Messeort sechsmal so viele Aussteller an wie nach Frankfurt, dem zweitwichtigsten Platz.

Von Leipzig geht vor 100 Jahren auch der entscheidende Impuls für das moderne Messewesen aus. Die Warenmessen werden auf Mustermessen umgestellt. Alle anderen Messestandorte folgen dem Schritt. Doch in Leipzig wird er weit radikaler als andernorts vollzogen: In der historischen Innenstadt fallen unzählige Häuser­karrees, um wuchtigen „Messe-Palästen“ zu weichen.

Zugunsten eines Messekaufhauses soll sogar das Alte Rathaus fallen. Nur um Haaresbreite fällt der prächtige Renaissancebau nicht der Spitzhacke zum Opfer: Die dramatische Abstimmung im Stadtparlament endet mit 31 zu 31 Stimmen. Dafür wird 1924 der Marktplatz aufgerissen und ein Teil des innerstädtischen Messe­treibens unter die Erde in eine Untergrundmessehalle verlegt. Vier Jahre zuvor setzt Leipzig anlässlich einer internationalen Bau-Fachausstellung mit einem Freiareal, dem technischen Messegelände unter dem Völkerschlachtdenkmal, erneut Maßstäbe.

Trotz aller Modernisierungswut entsteht in Leipzig ein feines Gespür für die Notwendigkeit eines attraktiven städtebaulichen Umfelds, das Geschäfte stimuliert. Dieser Erkenntnis verdankt die Stadt ihre prächtigen Parkanlagen, großzügigen Alleen und ihre repräsentative Architektur.

Die Verantwortlichen in der Stadt handeln stets wegweisend, wenn es gilt, die Infrastruktur auf Spitzenniveau zu bringen. So führt die erste deutsche Ferneisenbahn von Leipzig nach Dresden. Der Freihandelstheoretiker Friedrich List lobt die 1839 in Betrieb genommene Strecke als einen „sich eröffnenden Feldzug auf ökono­mischem Gebiet“ und prophezeit der Stadt Leipzig: „Der Lohn darf und wird ihr nicht entgehen.“

1912 setzt die Stadt mit einem Monumentalbau, dem 8,99 Millionen Reichsmark teuren Neuen Rathaus, ein Zeichen. 1915 öffnet der zu diesem Zeitpunkt mächtigste Bahnhof Europas seine Portale. 1923 wird das größte Fernsprechamt des Kontinents eingeweiht. 1934 schließlich erfolgt der erste Spatenstich für den nie fertiggestellten Elster-Saale-Kanal. Der Krieg stoppt das kühne Projekt, auch im SED-Staat passiert nichts mehr.

 

Und heute? Nach dem Ende zwölfjähriger Naziherrschaft und vier Jahrzehnten Planwirtschaft schneidet Leipzig beim gesamtdeutschen Metropolenvergleich deprimierend schlecht ab.

Hinsichtlich der Bevölkerungszahl ist die Stadt auf Rang 13 zurückgefallen. Von der Pelzwirtschaft sind lediglich klägliche Reste übriggeblieben. Die in Leipzig gegründeten Mutterhäuser der Verlage werden von Nachkriegstöchtern im Westen übernommen, die keinesfalls an ihren Stammsitz zurückkehren wollen. Der Börsen­verein des Deutschen Buchhandels, die Deutsche Bibliothek und die Buchmesse sind inzwischen fest in Frankfurt etabliert. Die großen Industriemessen finden in Hannover statt. Früher blühende Indu­strieunternehmen müssen eine Schrumpfkur sondergleichen hin­nehmen.

Weit schlimmer wiegt die Zerstörung menschlicher Potenzen. Die Nazis vernichten die jüdische Gemeinde. Der Antisemitismus lebt auch im Arbeiter- und Bauernstaat DDR fort und führt in den fünfziger Jahren zu einer Auswan­derungswelle. Unter der SED-Ägide werden außerdem die Reste eines Bür­gertums zerschlagen. Jenseits der Parteikader darf sich keine Elite ent­falten, jede Initiative wird sanktioniert.

Doch trotz dieser Negativbilanz keimt in Leipzig, das in seiner 826jährigen Stadtgeschichte viele Rück­schläge verdauen musste, wieder Hof­fnung auf. Der gefeierte neue Opern­chef Udo Zimmermann hält es für durchaus möglich, dass auf den Ruinen und Traditionsresten „etwas ganz Neu­es“ entstehen kann – „eine weltoffene, progressive Bürgerstadt im Spannungs­feld zwischen West- und Osteuropa.“

Oberbürgermeister Heinrich Lehmann-Grube verweist auf einen deutlich sicht­baren „Aufschwung im Stadtbild“. Leipzig verfüge weltweit über einen ungebrochen guten Ruf, die Investoren ständen Schlange. Mit Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte beschwört der aus Hannover kommende Verwaltungsspezialist: „Städte können sich entwickeln.“ Der Leipziger Regierungspräsident, Walter-Christian Steinbach, ist sich sicher, „dass der wirtschaftliche Aufstieg der Region bereits wirksam begonnen hat“. Die Vision einer starken Euroregion im Jahr 2000 sei „durchaus begründet“.

Sein Argument: Den Sonderfall Ost-Berlin ausgenommen, bildet Leipzig zwischen Elbe und Pleiße den wirtschaftlich stärksten Kristallisationspunkt. In der Tat: Während sich der Freistaat Sachsen zunehmend in die Rolle des ostdeutschen Musterlandes drängt, nimmt die Region Leipzig in ihm unverkennbar die Lokomotivfunktion wahr. Die Anziehungskraft ergibt sich schon aus geographischen Gründen: Leipzig bildet den Mittelpunkt des attraktivsten Ballungsraumes im Osten der Republik, in dessen näherem Umkreis mehrere Millionen Menschen wohnen – ein gewaltiger Markt.

Zahlreiche West-Firmen haben in der Region bereits Kopfstellen und Niederlassungen errichtet. Besonders stolz sind die Leipziger auf über 50 Bankinstitute, die an der Pleiße heimisch sind. Hinzu kommen Versicherungsgesellschaften in vergleichbarer Zahl. Die Drei-Länder-Anstalt Mitteldeutscher Rundfunk (MDR), die die Keimzelle einer Medienstadt bilden soll, hat nicht ohne Grund Leipzig als Hauptquartier gewählt. Erstaunlich: In der Messestadt gibt es inzwischen mehr ausländische Konsulate als in den Landes­hauptstädten Dresden, Erfurt oder Magdeburg.

Die Vorreiterposition Leipzigs spiegelt sich in nüchternen Zahlen wider. So signalisiert der Arbeitsmarkt deutliche Absetzbewegungen gegenüber anderen Regionen. Ende September liegt die Arbeitslosenquote bei 8,7 Prozent. Damit liegt Leipzig unter dem Durchschnitt Sachsens (10,4 Prozent) und erst recht dem der neuen Länder (11,7 Prozent).

Die Schere wird sich weiter öffnen – auch innerhalb des Freistaates. In den ersten acht Monaten meldet die flächenmäßig sehr kleine Stadt Leipzig mit 6950 mehr Gewerbeanmeldungen als Dresden (6590) und Chemnitz (4787). Zugleich sind die Neugründungen signifikant erfolgreicher als in den beiden Schwesterstädten. Leipzig registriert im Vergleichszeitraum nur 1102 Gewerbeabmeldungen, in Dresden sind es 1965 und in Chemnitz 1189.

Ein ähnlicher Trend ergibt sich im Regierungsbezirk Leipzig, der einen Flächen- und einen Bevölkerunssanteil von je nur einem knappen Viertel am Freistaat Sachsen einnimmt. Gleichwohl findet hier ein Drittel aller förderfähigen Investitionen der Industrie statt, die im Freistaat nahezu 40 Prozent der neu entstehenden oder inzwischen gesicherten Arbeitsplätze garantieren. Förderanträge für Investitionen in Höhe von 2,6 Milliarden Mark sind mittlerweile bewilligt, über weitere 500 Millionen Mark wird in Kürze entschieden.

Größter Brocken: das Logistikzentrum des Fürther Waren­versenders Quelle, das mit einer knappen Milliarde zu Buche schlägt. Außerdem kommen im Regierungsbezirk mehrere Hundert Millionen Mark an Investitionen für die wirtschaftsnahe Infrastruktur hinzu. Mit den immensen Mitteln wird, auf lange Sicht zumindest, eine der effizientesten Pro­duktionsstrukturen auf dem alten Kontinent geschaffen.

 

Den Weg an die euro­päische Spitze will auch die angeschlagene Leipziger Mes­se wiederfinden, deren Wohl­ergeh­en stets mit dem der Stadt verbunden war. Eine Grundvoraussetzung dazu wur­de im letzten Monat in die Wege geleitet: Das alte Messe­gelände wird aufgegeben, am Stadtrand wird in verkehrsgün­stiger Lage ein neues Areal bebaut. Mit einem Aufwand von einer Milliarde Mark (der Bund schießt 300 Millionen zu) will die Messeleitung innerhalb von nur vier Jahren einen der international modernsten Aus­stellungsplätze entstehen lassen.

Das Projekt ist vielleicht ebenso weitsichtig wie viele der großen Vorhaben zu Beginn des Jahrhunderts. Damals machten mutige Investitionen die Stadt groß. Warum sollte es heute nicht wieder ähnlich sein?

 

 








Дата добавления: 2015-06-17; просмотров: 822;


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